Ich bin ganz kurz vor dieser Szene, am Tag des Karnevals, just als Gelis van Borselen, das kleine unsympathische Blag Claes Aufmerksamkeit an sich reißt.
Ich mache mir laufend Notizen - mein Buch ist voller Post-it Zettel. Ich spüre jetzt sovielen Spuren nach, Dinge, die man beim ersten Lesen (und manchmal auch beim 2.ten und 3.ten Mal) übersieht. Mir fällt so ungemein viel auf.
Wie in einem Puzzle fügt sich Stück für Stück zusammen. Das was du meinst mit "Ich will Romanfiguren greifen können, innerlich sehen können", das liefert Dunnett nicht frei Haus. Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist, dass DD Personen zu keinem Zeitpunkt als allwissende Erzählerin portraitiert. Man muß sich seine Figuren erobern.
Man lernt Claes nach und nach kennen und stellt fest, dass der Mensch als den man ihn zuerst kennenlernte nicht die ganze Wahrheit ist. Viele kleine Begebenheiten verdichten das Bild. Wieso lernt ein einfacher Färberlehrling hochgestellte Persönlichkeiten kennen? Wieso beachten sie ihn überhaupt? Man erfährt, dass er den Dauphin von Frankreich schon mal gesprochen hat, er kennt die Agenten der Medici. Das sollte einen im Grunde von Anfang an stutzig machen - ich habe es erst gar nicht begriffen, sondern erst viel später, dass die ersten Hinweise schon so früh kommen.
Was du über jemanden erfährst ist immer aus dem Blickwinkel einer anderen Figur dargestellt. Am Anfang sind es Felix und Julius, durch deren "Brille" Claes eingeführt wird. Für sie ist er der gutmütige Narr - ein Mitglied eines niedrigeren Standes, kein Ebenbürtiger. Einer über den man lacht, der tolldreiste Einfälle hat, einer der stets Dinge erfindet, die andere dann kaputt machen.
In Marian de Charettys Gegenwart lernt man eine neue Seite von Claes kennen, weil Marian ihn anderes wahrnimmt: er ist jemand, der das Geschäft begreift, sie hat ihn als kompetenten Berater kennengelernt. Sie spricht zu ihm nicht wie zu einem Untergebenen, schon gar nicht als einem, der weiter unter ihrem Stand steht. Sie schätzt sein Urteil und sie behandelt ihn fast liebevoll.
In Gegenwart der Mailänder legt er eine neue Facette an den Tag: der charmante und clevere Gesellschafter.
Am Karnevalstag gibt es einen Ausblick aus Katelina van Borselens Gedankenwelt, etwa die ganze S. 310 inklusive: "Eigentlich war dieser junge Frauenheld ziemlich klug, was man von einem Diener nicht unbedingt erwartete. Verstand wünschte man sich, wenn überhaupt, bei einem Geliebten." (!!!?)
Ich finde es so faszinierend, dass DD konsequent ihre Figuren eigene Schlüsse ziehen läßt, entsprechend ihrem Informationsstand. So erhält man selber immer wieder stückchenweise Informationen - und ist immer nur so weit in der Geschichte, wie die Akteure selber das überblicken können.
Im übrigen habe ich mittlerweile auch wieder mein "Lokalkolorit" gefunden, entgegen deines ersten Eindrucks
Brügge am Vortag des Karnevals (S. 294-295) - bunt, detailliert, wie ein Gemälde, Lokalkolorit satt, ein Sprung mitten in eine neue Welt. Hat dir das gefallen?
Mir ist heute beim Lesen in der S-Bahn wieder aufgefallen wie geschickt das Verwirrspiel mit Claes und Jordan de Riberac eingefädelt ist! Gelis van Borselen bringt Claes einen Umhang mit, der mit Federn besetzt ist. Das bleibt im Gedächnis haften, aber nur am Rande. Riberacs Maske scheint komplett aus Federn zu bestehen. Also fragt man sich die ganze Zeit - ist es Claes???
Wie Claes und Niccolo zusammenhängen hast du jetzt ja schon herausgefunden. Was einen anfangs verwirrt ist vielleicht die Schriftweise von "Claes". Man spricht es "Claas" aus - das "e" im "ae" ist ein Dehnungs-e, so wie in Coesfeld.
Ich laß dich jetzt weiter mit Claes/Nicholas ;-) - halt mich auf dem Laufenden!!
Liebe Grüße, Bine